Prof. Dr. rer. pol. Estelle Herlyn

Prof. Dr. Estelle Herlyn, Leiterin des FOM KompetenzCentrums für nachhaltige Entwicklung (Foto: Tom Schulte/FOM)

Effektiver Klimaschutz? Prof. Dr. Estelle Herlyn im Interview

„Wir müssen globaler denken und handeln“

Nachhaltigkeit — was bedeutet das eigentlich? Ein komplexes Thema, das uns täglich betrifft. Prof. Dr. Estelle Herlyn, Leiterin des FOM KompetenzCentrums für nachhaltige Entwicklung (KCN), forderte kürzlich im Wirtschafts-Podcast „beyond the obvious“ ein neues Verständnis von Nachhaltigkeit. Im Interview erklärt sie, was das bedeutet und warum Investitionen im globalen Süden oftmals effektiver sind als die nationalen Maßnahmen, mit denen Deutschland Vorreiter in Sachen Klimaneutralität sein will. 

Frau Professorin Herlyn: Sie sagen, wir brauchen ein anderes Verständnis von Nachhaltigkeit. Warum?
Das Thema Nachhaltigkeit ist leider in ein negatives Licht geraten, und vielen ist nicht klar, worum es im Kern eigentlich geht. Dazu müssen wir zurück zu den Ursprüngen blicken: ins Jahr 1972, als die erste UN-Umweltkonferenz stattfand und Umwelt-, Klimaschutz, und sowie wirtschaftliche Entwicklung erstmals global und gemeinsam betrachtet wurden. Heute haben wir vor lauter Detailfragen den Blick fürs Ganze verloren. Deutschland hat eine teure Vorreiterrolle eingenommen und will bis 2045 klimaneutral sein, vor allen anderen außer Österreich — und begeht dabei den Fehler, Klimaschutz zu sehr national zu betrachten. Denn weltweit steigen die CO2-Emissionen aufgrund des wachsenden Energiebedarfs infolge des anhaltenden Bevölkerungswachstums und des Strebens nach Entwicklung immer weiter. Bis 2050 sind Zuwächse des Energiebedarfs von 30 bis 40 Prozent prognostiziert. Wir müssen erkennen, dass Umwelt-, Klimaschutz und wirtschaftliches Wachstum zusammengedacht werden müssen und ein globales Thema darstellen, welches wir nur international und gemeinsam positiv gestalten können. Unser Ziel muss sein, weltweit den CO2-Ausstoß zu senken. Dafür engagieren wir uns aus meiner Sicht gerade viel zu wenig. Und deshalb brauchen wir einen Neustart.

Was wäre Ihrer Meinung nach ein besserer Ansatz für effektiven Klimaschutz?
Wir müssen globaler denken und handeln. Anstatt nur national CO2 einzusparen, sollten wir verstärkt im globalen Süden investieren, um dort eine CO2-neutrale wirtschaftliche Entwicklung zu fördern. Ein Neuaufbau ist oft einfacher und kostengünstiger als die Umgestaltung bestehender Systeme und erzielt pro Euro eine größere Wirkung als nationale Maßnahmen. Zudem müssen wir unseren Fokus mehr auf die Natur und intakte Ökosysteme richten, denn sie sind die Grundlage jeder Wertschöpfung. Etwa die Hälfte der weltweiten Wertschöpfung hängt unmittelbar von intakten Ökosystemen ab. Wenn wir in diese Bereiche investieren, schaffen wir nicht nur nachhaltige Lösungen, sondern auch wirtschaftliche Chancen für viele Menschen weltweit. Das ist oft wirkungsvoller als all die Regulierungsmaßnahmen, die derzeit viele Unternehmen belasten. 

Können Sie dazu ein Beispiel nennen?
Kürzlich hat mir ein ehemaliger FOM Student geschrieben, der jetzt Nachhaltigkeitsmanager bei einem großen Fahrradreifenhersteller ist. Seine Erfahrungen mit der EU-Entwaldungsrichtlinie zeigen, was heutige Lieferkettenregularien tatsächlich bewirken: viel Aufwand für wenig oder keine Wirkung. Die Richtlinie verlangt eine sortenreine Trennung von Rohstoffen wie Kautschuk, der in diesem Fall von Kleinbauern aus Indonesien bezogen wird. Ein Kautschukblock kann Material aus rund 50 Regionen enthalten, was die Rückverfolgbarkeit extrem erschwert. Zusätzlich müssen die Kleinbauern motiviert werden, die Compliance-Vorlagen einzuhalten und zum Beispiel Geodaten zu liefern. Das hat zur Folge, dass viele Lieferanten entweder deutlich mehr für ihren Kautschuk verlangen oder nur noch lokal verkaufen. Das bringt weder den Kleinbauern einen Mehrwert, noch reduziert es die Abholzung des Regenwaldes. Wenn wir wirklich nachhaltige Veränderungen in den Lieferketten erreichen wollen, müssen wir uns an dem Fairtrade-Gedanken orientieren und dessen Prinzipien integrieren. Wenn Standards angehoben werden, steigen natürlich auch die Preise —und die müssen wir bereit sein zu zahlen. Nur so lassen sich nachhaltige Praktiken unterstützen und gleichzeitig die Lebensqualität der Kleinbauern verbessern.

Wie lässt sich in dieser verworrenen Gemengelage etwas bewegen?
Das Thema ist so komplex, dass man genauer hinschauen muss und Zeit braucht, sich einzuarbeiten. Mit unserem Bachelor-Studiengang „Nachhaltigkeitsmanagement“ (B.A.) und dem TopUp-Master „Sustainability & Business Transformation“ (M.A.) wollen wir Interessierte aus wirtschaftlichen und technischen Bereichen zum kritischen Denken und Hinterfragen befähigen und sie nicht nur zu Nachhaltigkeitsbürokraten ausbilden. Denn wir brauchen mehr Menschen, die lösungsorientiert und mit ökonomischem Sachverstand an die Themen herangehen und mutig neue Wege beschreiten. Nicht nur von politischer Seite her, sondern auch aus den Unternehmen heraus lässt sich viel bewegen. Mit praxisorientierten Studienangeboten dazu beizutragen, bedeutet für mich Sinnstiftung.

Die Fragen stellte Michaela Strassmair.
 

Podcast-Tipp:

Die Episode des Podcasts „beyond the obvious“ mit Prof. Herlyn (Folge #261, ab Minute 31:30) ist auf allen gängigen Podcast-Plattformen verfügbar.

Zur Person

Prof. Dr. Estelle L.A. Herlyn ist Dipl.-Wirtschafts-Mathematikerin und seit 2014 wissenschaftliche Leiterin des KompetenzCentrums für nachhaltige Entwicklung an der FOM. Zuvor arbeitete sie in diversen internationalen Unternehmen (u. a. PricewaterhouseCoopers Unternehmensberatung, L’Oréal Deutschland, Ford). Nebenberuflich ist die Expertin für globale Nachhaltigkeitsfragen am Forschungsinstitut für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung in Ulm tätig, Mitglied des Vorstands von Global Energy Solutions e.V., stellvertretende Kuratoriumsvorsitzende des Senatsinstituts für gemeinwohlorientierte Politik sowie Mitglied in der Deutschen Gesellschaft des Club of Rome.

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